Ich bin kein „Charity-Projekt“

Studium fertig, und jetzt? Von Gefühlen und Gedanken zum Berufseinstieg mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen – Gastautorin Sabrina Lorenz nimmt uns mit.

Offenes Tagebuch, auf dem ein Bleistift liegt. Darin steht: "Studium fertig. Und jetzt?"

Text: Sabrina Lorenz

Es ist Mitte April, als ich mich durch mögliche Stellenausschreibungen für Jobangebote scrolle. Ich habe nun die endgültig letzte Bescheinigung meines Bachelorstudiengangs unterschrieben zurückerhalten: „erfolgreich abgeschlossen.“ Ich würde lügen, würde ich sagen, dass das Studieren mit mehreren chronischen Erkrankungen und einer Schwerbehinderung immer leicht war. Es hat mich vor so einige Herausforderungen gestellt. 

Zu Beginn meines Studiums wusste ich nicht, wie sich meine chronische Erkrankung im Studienverlauf verändern wird und ob mein Studiengang für mich barrierearm sein wird. Ich als Mensch mit chronischer Erkrankung und Behinderung habe genauso, wie alle anderen das Recht auf Bildung und auf eine freie Berufswahl. Dabei ist es meine Aufgabe auf meine Kräfte zu schauen, nicht aber das Berufsfeld für mich barrierefrei zu gestalten. Schließlich ist das die Aufgabe der Ausbildungsstätte, der Hochschule oder auch des Arbeitsplatzes.

Ich weiß, was ich kann, und habe Vertrauen, dass ich schon meinen Weg finden werde. Für welche der vielen freien Stellen ich mich bewerben würde, ist aber gar nicht so einfach zu sagen. Ich benutze hier mit Absicht den Konjunktiv, denn die entscheidende Frage ist: Sind diese Stellen auch barrierefrei für mich zugänglich? Um eine Antwort darauf zu finden, filtere ich die Stellenanzeigen nach Inklusion und Barrierefreiheit. Das Ergebnis: Die Anzahl möglicher Jobs reduziert sich immens.

Was Barrierefreiheit für mich bedeutet

Inklusion wird viel zu häufig noch als Luxus gesehen, als eine „gute Tat“. Dabei ist Inklusion die Voraussetzung für Teilhabe. Und Teilhabe ist Menschenrecht. Diese gilt, so wie in jedem anderen Lebensbereich, auch für den Arbeitsmarkt. Auf der Suche nach einer passenden Arbeitsstelle frage ich mich nicht mehr: zu welchem Unternehmen passe ich, sodass meine Behinderung möglichst kein großes Thema ist? Sondern ich frage mich: Welches Unternehmen passt zu mir? Was traue ich mir zu und was brauche ich, damit ich das umsetzen kann? Dabei erinnere ich mich, dass mein Arbeitspensum nicht meinen Wert definiert. Ich mache genug, ich bin genug und ich muss mich nicht verstellen, um eingestellt zu werden. Nur, wenn ein Arbeitsplatz für mich so barrierearm wie möglich ist, kann ich meine Arbeit gut machen.

Barrierefreiheit heißt für mich zum Beispiel Aufzüge oder bestimmte Schreibtischstühle. Sie bedeutet aber auch: Denken meine Vorgesetzten daran, dass ich für Außeneinsätze ein Automatikauto, statt einen Schaltwagen benötige? Und bedenken sie, dass das Büro groß genug ist, sodass meine Arbeitsassistenz mit an meinem Schreibtisch Platz findet? Oder kann ich den Arbeitsplatz bei Bedarf auch in das Home-Office verlegen, damit ich meinen Alltag besser meinem Gesundheitszustand anpassen kann? Meine chronische Erkrankungen und Schwerbehinderung werden immer Teil meiner Realität sein und selbst, wenn die ganze Welt von außen barrierefrei scheint, lebe ich weiterhin mit meiner chronischen Erkrankung und Schwerbehinderung. 

Es ist ein zusätzlicher Kraftaufwand immerzu zu überlegen, wie ich am besten meine Energieressourcen einplane und welche Unterstützungsmöglichkeiten mir meinen Arbeitsalltag mit einem sich immerzu verändernden Gesundheitszustand tatsächlich erleichtern. Auf mich zu achten ist dabei meine Aufgabe. Es ist meine Verantwortung mir gegenüber. Meinem Wohlbefinden diese Aufmerksamkeit zu schenken ist dabei eine Form von Fürsorge. Meine Erkrankung und Schwerbehinderung bestimmen nicht mein Leben. Aber ich achte auf das, was sie mir sagen, sodass ich gemeinsam mit ihnen in dem mir möglichen Radius ein Leben schaffe, welches sich für mich gut anfühlt.

In einer Suchmaschine wird gesucht nach: "Inklusive und barrierefreie Jobs". Die Suche lädt.

Ich bin kein „Charity-Projekt“

Barrierefreiheit hört für mich nicht auf, wenn die Rollstuhlrampe am Eingang montiert wurde oder die Türschilder auch eine Braille-Übersetzung haben. Für mich mit am wichtigsten ist der zwischenmenschliche Umgang miteinander. Ich bin mir sicher, dass sich kaum ein Mensch mit Absicht  ableistisch verhalten will. Doch tun es so viele, weil unsere Gesellschaft ableistisch sozialisiert ist. Dann möchte ich hinterfragen, ob diese Person es einfach bisher nicht besser wusste. Oder begegnet mir hier ein ignoranter Mensch? 

Ableismus im zwischenmenschlichen Kontext äußert sich nicht immer als behindertenfeindlicher Satz wie „Mit der Person mit Behinderung kommen wir ja niemals voran!“ Häufig passiert dies subtiler und doch tut es genau so weh. Ich habe es schon mehrfach in Praktika erlebt, dass ich das „Charity-Projekt“ meiner Vorgesetzten war. Dass sie „doch so gute Menschen“ seien, jetzt, wo sie sich „auch für eine behinderte Person“ einsetzen. Ich bin kein "Charity-Projekt". Ich mache meine Arbeit nicht trotz Behinderung. Sondern mit ihr. 

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Am Steuer sitze ich

Meine fachliche Expertise ist nicht weniger wertvoll oder qualitativ, nur weil ich nicht die Treppen im selben Tempo hinaufsteigen kann oder kürzere Arbeitszeiten benötige. Ich weiß, dass ich meine Behinderung nicht zwangsläufig in meiner Bewerbung angeben muss. Für mich gehört sie aber zu mir und ich persönlich weiß, dass wenn ich diese in meinem Anschreiben erwähne, dass ich daran anknüpfen kann und so herausfinden kann, ob für das Unternehmen, in dem ich mich bewerbe, Barrierefreiheit und Inklusion Fremdwörter sind oder ob sie bereits eine anti-ableistische Unternehmenskultur pflegen. 

Meine Bedarfe machen mich nicht zu etwas Besonderem. Mich einzustellen, ist keine „gute Tat“, die die Personaler*innen zu „besseren Menschen“ macht. Meine chronische Erkrankung und meine Behinderung sind meine Begleitungen. Sie sind mit dabei, sitzen auf der Rückbank fest angeschnallt. Ich beachte sie bei den Entscheidungen, die ich treffe, ich plane sie mit ein. Sie gehören zu mir dazu. Ja sie machen mich zum Teil auch zu der Person, die ich heute bin: ohne die chronische Erkrankung und Behinderung hätte ich nicht dieselben Erfahrungen gemacht, die ich gemacht habe. Aber ich bin auch mehr als das. Auf der Suche nach einer zukünftigen Arbeitsstelle sitzt auf dem Beifaher*innensitz vor allem meine fachliche Expertise, meine Kompetenzen und meine beruflichen Erfahrungen. Bei all dem sitze ich am Steuer. Und ich darf mir wertvoll genug sein, mich anzuerkennen in der Gesamtheit, die ich bin.

Junge Frau mit schulterlangen, braunen Haaren. Sie trägt eine Sauerstoffbrille.

Über die Autorin:

Sabrina Lorenz ist Autorin, Speakerin und Beraterin zu den Themen Inklusion, Ableismus und Medizinkommunikation. Auf ihrem Online-Blog leistet sie Aufklärungsarbeit, schreibt über Disablity-Empowerment und erreicht so tagtäglich über 34.000 Personen.

Lorenz steht als Keynote-Speakerin auf Bühnen in ganz Deutschland und füllt so Hörsäle oder politische Tagungsräume und berät Mitarbeitende des Gesundheitwesens hinsichtlich einer anti-diskriminierenden Ärzt*innen-Patient*innen-Kommunikation. Sie zeigt so, dass Inklusion längst in die Mitte unserer Gesellschaft gehört. 
Im Frühjahr 2023 erschien ihr erstes Buch "Weil Sonnenblumen auch im Winter blühen" im Eigenverlag und schafft damit einen Raum für Austausch, Verständnis und ganz viel Mut für andere Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen und ihre Angehörigen.

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